Nach den Feststellungen des Nationalen Bewertungsrahmens Tierhaltungsverfahren[1] sind infolge der permanenten Fixierung folgende Verhaltensweisen der Kühe als „stark eingeschränkt/nicht ausführbar“ anzusehen:
- die Gruppenbildung und die Aufrechterhaltung der Sozialstruktur,
- die Fortbewegung (Gehen, Laufen, Rennen, Drehung), die Liegeplatzwahl,
- die Nahrungssuche (weil kein Grasen auf Weide möglich), die Fortpflanzung (Aufspringen/Rindern, Separation zur Geburt, Geburtsverhalten, Mutter-Kind-Bindung),
- die Körperpflege (eigene Körperpflege, Körperpflege am Objekt und Thermoregulation/Abkühlung) sowie die Erkundung.
- Eingeschränkt sind darüber hinaus auch das Abliegen/Aufstehen, das störungsfreie Ruhen/Schlafen und die Einnahme der arttypischen Ruhe- und Schlaflage.
Damit kann keinem vernünftigen Zweifel unterliegen, dass Kühe in Anbindehaltung entgegen § 2 Nr. 1 TierSchG nicht entsprechend ihrer Art und ihren Bedürfnissen angemessen verhaltensgerecht untergebracht sind[2]. Durch die andauernde Einschränkung der Bewegungsmöglichkeit kommt es bei angebundenen Kühen darüber hinaus zu Schmerzen, vermeidbaren Leiden und Schäden, sodass auch ein Verstoß gegen § 2 Nr. 2 TierSchG gegeben ist.
Nach Einschätzung des Nationalen Bewertungsrahmens Tierhaltungsverfahren[3] besteht insbesondere ein erhöhtes Risiko für Erkrankungen der Geschlechtsorgane, für Erkrankungen des Euters, für Erkrankungen des Bewegungs- und des Verdauungsapparates sowie für Stoffwechselstörungen und für Verletzungen und Schäden des Integuments. Auch der Deutsche Bundesrat stellt fest, dass bei ganzjährig angebundenen Kühen im Vergleich zu Kühen im Laufstall oder mit Auslauf deutlich mehr Krankheiten wie z. B. Fruchtbarkeitsstörungen, Eutererkrankungen sowie Zitzenverletzungen auftreten.[4] Die meisten dieser Erkrankungen sind zumindest auch durch den Platzmangel und die erzwungene Bewegungsarmut mit verursacht, so dass die durch sie verursachten Schmerzen und Leiden den Verbotstatbestand des § 2 Nr. 2 TierSchG verwirklichen.
Dauernde Anbindehaltung
Der Verstoß der dauernden Anbindehaltung gegen § 2 Nr. 1 und 2 TierSchG bedeutet zugleich auch, dass Art. 4 i. V. mit Anhang Nr. 7 der EU-Nutztierhaltungsrichtlinie (Richtlinie 98/58/EG v. 20. 7. 1998 über den Schutz landwirtschaftlicher Nutztiere) verletzt wird. Nach Art. 4 dieser Richtlinie müssen die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass die Haltungsbedingungen von Nutztieren den Bestimmungen des Anhangs der Richtlinie genügen. Nach Nr. 7 Satz 1 dieses Anhangs darf die artgerechte Bewegungsfreiheit eines Tieres nicht so eingeschränkt werden, dass dem Tier unnötige Leiden oder Schäden zugefügt werden. Nach Nr. 7 Satz 2 muss ein Tier, das ständig oder regelmäßig angebunden ist, über einen Platz verfügen, der der praktischen Erfahrung und wissenschaftlichen Erkenntnissen nach seinen physiologischen und ethologischen Bedürfnissen angemessen ist. Die Parallelität von Nr. 7 Satz 1 zu § 2 Nr. 2 TierSchG und von Nr. 7 Satz 2 zu § 2 Nr. 1 TierSchG ist augenfällig. Weil die EU-Nutztierhaltungsrichtlinie Cross-Compliance-relevant ist (d. h. dass Landwirten, die gegen die Anforderungen dieser Richtlinie verstoßen, die EU-Direktzahlungen von z. Zt. 344 EUR pro ha landwirtschaftlicher Fläche gekürzt und evtl. auch ganz gestrichen werden müssen[5]), müssen die zuständigen Behörden prüfen, inwieweit Landwirte, die ihre Kühe in Anbindehaltung ohne wenigstens zeitweisen Weidegang halten, von den Direktzahlungen auszuschließen sind.
Darüber hinaus werden Kühen in mehr als nur vorübergehender Anbindehaltung länger anhaltende oder sich wiederholende Schmerzen oder Leiden zugefügt, die „erheblich“ i. S. des Verbots der quälerischen Tiermisshandlung (§ 17 Nr. 2 b TierSchG) sind. Bei dem gesetzlichen Merkmal „erheblich“ handelt es sich zur Ausgrenzung von Bagatellfällen um ein Merkmal, das als Rechtsbegriff – ebenso wie im Rahmen anderer Gesetzesbestimmungen (vgl. § 184h Nr. 1 StGB) – zu qualifizieren ist. „Dabei dürfen an die Feststellung der Erheblichkeit im Hinblick darauf, dass es nur um die Abgrenzung von Bagatellfällen und geringfügigen Beeinträchtigungen geht, keine übertrieben hohen Anforderungen gestellt werden.“[6] Die Erheblichkeit von Schmerzen oder Leiden von Tieren kann u. a. durch Funktions- und Verhaltensstörungen angezeigt werden. Zu den Funktionsstörungen bei angebundenen Kühen, die als Indikatoren für erhebliche Schmerzen und Leiden der Tiere angesehen werden können, gehören u. a. die durch den Platzmangel mit bedingten Erkrankungen des Euters, die durch den erzwungenen Bewegungsmangel mit verursachten Lahmheiten und Erkrankungen des Verdauungsapparates und die infolge fehlender oder nicht ausreichender Einstreu auftretenden Verletzungen und Schäden des Integuments[7]. Als Verhaltensstörung sticht das erzwungene Nichtverhalten hervor, d. h. das durch das Haltungssystem bedingte Nicht-Ausführen-Können wesentlicher artgemäßer Verhaltensabläufe, das sich im Ausfall oder in der starken Reduktion arttypischer Verhaltensweisen äußert. Von dieser Störung sind bei dauernder Anbindehaltung nahezu alle für das Wohlbefinden des Tieres wesentliche Funktionskreise des Verhaltens (Sozialverhalten, Fortbewegung, Ruhen und Schlafen, Nahrungsaufnahme, Ausscheidung, Fortpflanzung, Körperpflege und Erkundung) betroffen[8].
Aber auch ohne äußerlich wahrnehmbare Indizien (Verhaltensstörungen, Funktionsstörungen, Verletzungen, Krankheiten) kann schon das bloße Ausmaß der Verhaltensrestriktionen, denen ein Tier in einem Haltungssystem unterworfen wird, ausreichen, um erhebliche Leiden anzunehmen. Denn: Je stärker ein angeborener Verhaltensablauf durch eine Tierhaltungsform oder eine sonstige Einwirkung unterdrückt oder zurückgedrängt wird, desto eher muss das dadurch verursachte Leiden jenseits der Bagatellgrenze eingestuft und damit als erheblich eingestuft werden; das gilt erst recht, wenn mehrere oder - wie im Falle der dauernden Anbindehaltung - zahlreiche Verhaltensbedürfnisse oder Bedürfnisse aus ganz unterschiedlichen Funktionskreisen betroffen sind.[9]
Dies steht nicht in Widerspruch zu BGH, Urt. v. 18. 2. 1987[10], denn der BGH hat in dieser Entscheidung in seiner Funktion als Revisionsgericht den zweistufigen Leidensansatz des Untergerichts (auf der ersten Stufe Feststellung, dass Bedürfnisse der Tiere unterdrückt oder zurückgedrängt sind = Leiden; auf der zweiten Stufe Feststellung daraus resultierender Verhaltensauffälligkeiten, Anomalien oder anderer Störungen = Erheblichkeit) keinesfalls als zwingend, sondern nur als „nicht denkfehlerhaft“ bezeichnet, andere Formen der Leidensfeststellung damit also keineswegs ausgeschlossen. In Anbetracht der Vielzahl der Grund- und Bewegungsbedürfnisse, die bei Kühen in dauernder Anbindehaltung nicht ausführbar oder jedenfalls stark eingeschränkt sind, kann keinem vernünftigen Zweifel unterliegen, dass bei diesen Tieren die Schwelle zur strafrechtlich relevanten Erheblichkeit ihrer Leiden i. S. des § 17 Nr. 2 b TierSchG erreicht und überschritten wird. Dafür spricht auch die Wertung, die der EU-Tierversuchsrichtlinie (Richtlinie 2010/63/EU v. 22. 9. 2010, Anhang VIII Abschnitt III Nr. 2 h und Nr. 3 i zu entnehmen ist: Dort wird für den Bereich der Versuchstierhaltung die Unterbringung eines Tieres in einem sog. Stoffwechselkäfig als Belastung der Stufe „schwer“ eingestuft, wenn sie länger als fünf Tage andauert. Die Verhaltensrestriktionen einer Milchkuh in Anbindehaltung sind den Beschränkungen, denen ein Versuchstier bei Haltung im Stoffwechselkäfig unterworfen ist, durchaus vergleichbar, und sie dauern für die angebundenen Kühe monate- und jahrelang, im ungünstigen Fall sogar lebenslang.